Tombelaine

Letzte Änderung 30. Juli 2023

Karte in Google Maps

Einst wanderte der Riese Gargantua durch die Bucht, als ihn ein Schuh drückte. Er zog ihn aus und drei Kieselsteine fielen heraus: Mont-Dol, Tombelaine und Mont-Saint-Michel.

Eine Legende aus den Schriften des Scriptorial d’Avranches.

Die Gezeiteninsel Tombelaine liegt nur 2600 Meter von Mont-Saint-Michel entfernt in der 40.000 Hektar großen Bucht, die sich zum Ärmelkanal öffnet. Der Tidenhub ist hier so hoch wie kaum irgendwo sonst in Europa. Bei Springfluten kann er bis zu 14 Meter erreichen. Bei Ebbe zieht sich das Meer bis zu 20 Kilometer zurück und hinterlässt eine riesige Fläche aus feinem Sand, Schlick und gefährlichem Treibsand.

Durchzogen wird das Watt von Prielen, mäandrierenden Wasserläufen, in denen sich das salzige Meerwasser und das Wasser der in die Bucht mündenden Flüsse beim Ab- und Zufluss sammelt. Sie bleiben oft reißende Bäche mit einer starken Strömung, auch wenn das Wasser nur bis zu den Knien reicht. Die Flut kommt rasend in die Bucht zurück mit einer mittleren Geschwindigkeit von 62 Metern pro Minute. Im Volksmund sagt man: „Die Flut kommt wie ein galoppierendes Pferd.“

Im Laufe der Jahrhunderte wurden zahlreiche Pilger Opfer der Gezeiten und des Treibsandes in der Bucht von Mont-Saint-Michel. Wer sich auf eine Wanderung durch das Watt machen möchte, schließt sich besser einer Führung an. Die Tour mit dem Titel Le Chemin du Marquis de Tombelaine [Der Weg des Markgrafen von Tombelaine] ist eine etwa sieben Kilometer lange und dreieinhalb Stunden dauernde geführte Rundwanderung von Mont-Saint-Michel zur Nachbarinsel Tombelaine und zurück. Eine Buchung erfolgt problemlos über das Internet.

Ob und wann eine Wattwanderung zur Nachbarinsel möglich ist, hängt ab von den Gezeiten. Die Führung erfolgt in französischer Sprache durch einen staatlich geprüften Wattführer. Der Treffpunkt befindet sich links neben dem Haupteingang von Mont-Saint-Michel. Von dort geht es entlang des östlichen Arms des Couesnon zunächst zur Ostseite des Mont, wo der Wattführer über die Gefahren und Regeln einer Wattwanderung informiert. Die wichtigsten Regeln sind, sich nicht von der Gruppe zu entfernen und den Anweisungen des Wattführers zu folgen.

Dann breitet er eine Karte auf dem Boden aus und erklärt, dass drei Flüsse in die Bucht münden: Couesnon, Sée und Sélume. Sie haben im Zusammenspiel mit dem ein- und auslaufenden Meer die Priele im Watt ausgeformt, die sich in einem steten Wandel befinden, was ihren Verlauf und Untergrund betreffen. Während unserer Wanderung müssen einige an Stellen überquert werden, wo das leicht und sicher möglich ist. Deshalb wird die Tour nicht dem kürzesten und ditekten Weg folgen, sondern sie wird bestimmt durch die Gezeiten im Verlauf der Wanderung und durch den Untergrund des Weges. Zeitlich ist sie so gelegt, dass Tombelaine beim Tiefstand der Ebbe erreicht wird und der Hin- wie auch der Rückweg gefahrlos zurücklegt werden kann.

Der Wattführer gibt ein hohes Tempo vor und wartet immer wieder, bis sich die Gruppe gesammelt hat, um seine Erläuterungen fortzusetzen. Von weitem unterschätzt man Tombelaine leicht in seiner Größe. Mit einer Grundfläche von vier Hektar ist die Insel nicht viel kleiner als ihre fünf Hektar große Schwester. Doch mit einer Höhe von maximal 45 Metern und ohne eine Bebauung, abgesehen von ein paar Ruinen am Strand, verblasst sie hinter dem hohen und prachtvollen Klosterberg.

Der Name „Tombelaine“ kann etymologisch als „kleine Grabstelle“ hergeleitet werden. Eine andere Erklärung leitet ihn von „Tombe de Belenos“ ab. Belenos war ein keltischer Gott, dessen Aufgabenbereich in der Forschung noch nicht völlig geklärt ist. Er wurde mit dem römischen Apoll gleichgesetzt, weshalb man ihn als einen Sonnengott verstehen könnte. Neuere Untersuchungen bringen ihn auch mit Wasser in Verbindung, was zu einer Kultstätte auf einer Insel passen würde. Folgt man der Legende von Scissy, so waren Tombelaine und Mont-Saint-Michel einstmals bloße Anhöhen in einem Waldgebiet.

Das Mönchstum an der Bucht hatte möglicherweise lange vor Aubert begonnen. In der Revelatio, die angeblich die Gründung der Abtei Anfang des 8. Jahrhunderts dokumentiert, werden zwei kleine Kirchen erwähnt, die zuvor auf dem Mont-Tombe [Mont-Saint-Michel] errichtet und dem Saint Stephan und Saint Symphorian gewidmet worden waren. Historiker halten es für möglich, dass die beiden Felseninsel anfänglich von irischen Mönchen besiedelt waren. Der aus Irland stammende Saint Columban (540-615) kam mit Gefährten über Britannien nach Gallien und gründete mehrere Klöster in Frankreich und Italien.

Im 10. Jahrhundert errichteten die Mönche des Mont-Saint-Michel auf Tombelaine eine Kapelle und ein Herrenhaus. Im 11. Jahrhundert verließen die Mönche Anastase und Robert den Mont-Saint-Michel, um sich als Eremiten dort zurückzuziehen. Im Jahr 1137 gründete Bernard du Bec, Abt von Mont-Saint-Michel, dort ein Priorat und die kleine Insel wurde zu einem Wallfahrtsort. Zwei Jahre zuvor hatte er den Neubau eines Klosters auf dem St Michael’s Mount in Auftrag gegeben, nachdem ihm jene Klosterinsel in Cornwall von Wilhelm dem Eroberer unterstellt worden war.

Während des Hundertjährigen Krieges wurde Tombelaine 1423 von den Engländern besetzt und eine Garnison, die dort lagerte, erweiterte einen Schutzwall um die Insel, mit dessen Bau Wilhelm dem Eroberer begonnen hatte. Nur wenige zerfallene Reste sind heute davon übriggeblieben. Im Jahr 1450 wurde die Insel schließlich von den Franzosen zurückerobert.

Unter Ludwig XIV gehörte sie Nicolas Fouquet, dem Superintendanten der Finanzen des Königs. Er baute das Priorat in eine Burg um. Im Jahr 1661 ließ der König ihn wegen Hochverrat verhaften, sein gesamtes Eigentum beschlagnahmen und die Gebäude auf der Insel zerstören.

1933 wurde Tombelaine vom Staat Frankreich erworben, nachdem eine Unternehmer-Vereinigung seit 1925 versucht hatte, eine touristische Nutzung der Insel durch die Errichtung von Hotels durchzusetzen. Heute steht die Insel wie „Little Skellig“, die kleine Schwester von Skellig Michael, unter Naturschutz und ist seit 1985 ein Vogelschutzgebiet.

Die Wattwanderung ist benannt nach einem Weg des Markgrafen von Tombelaine durch das Watt. Jean, Marquis de Tombelaine, ein schroffer Aristokrat Ende des 19. Jahrhunderts, der letzte einer adeligen Großfamilie, lebte vom Meer und wohnte in den Ruinen der kleinen Insel. Er war ein wild aussehender Mann mit langem Haar und noch längeren Bart, der stets barfuß umherlief, mit hochgerollten Hosenbeinen und einem zusammengerollten Fischernetz in seinen Händen. Seine äußere Erscheinung war schmuddelig, aber seine Augen waren klar und blau wie der Himmel an einem Sommertag. Er ließ sich gerne fotografieren und erzählte jedem, der es hören wollte, Geschichten vom Mont-Saint-Michel. Über einen Reiseführer verbreiteten sich Fotos und Geschichten von ihm in ganz Frankreich und er erlangte nationale Berühmtheit.

Aber existierte der Marquis wirklich?

Wie sich später herausstellte, war er die Erfindung der Brüder Neurdein, die ein Fotostudio in Paris betrieben. Verbreitung fand ihre Legende durch Amédée Maquaire, einem ehrgeizigen Autor und Verleger, ebenfalls aus Paris, der mit einem ersten Reiseführer über den Mont-Saint-Michel einen Bestseller landete. Der aufkommende Tourismus und die damit verbundene Wissbegier über interessante Reiseziele hatten den Erfolg möglich gemacht und der Hang zur Romantik in jener Zeit ließ den Marquis glaubhaft erscheinen.

In Wirklichkeit aber verbarg sich hinter ihm der bretonische Fischer Joseph-Marie Gauthier, der sich nach einem Konflikt mit dem Gesetz und einem Gefängnisaufenthalt den Namen Jean le Déluge zugelegt hatte. Er ertrank im Alter von 39 Jahren in einer kalten, stürmischen Nacht des Jahres 1892. In einer Legende stirbt er im Treibsand, während er jemand anderen vor dem Ertrinken rettet. Nachgestellt wurde diese schreckliche Szene ab 1903 in einem Kabinett auf dem Mont-Saint-Michel, das von Amédée Maquaire betrieben wurde.

Die Gruppe erreicht Tombelaine beim Tiefstand der Ebbe. Es bleibt ausreichend Zeit für eine Pause, den Verzehr eines selbst mitgebrachten Picknicks und für ein Sonnenbad auf den aufgewärmten Felsen am Strand. Danach geht es ebenso zügig wie auf dem Hinweg wieder zurück zum Mont-Saint-Michel.